ODESSA: Arbeit am Mythos

14. Juni 2010 | Von | Kategorie: Weltregionen, Amerika

von Dieter Maier

„Wie wir ja alle wissen“, haben Tausende von Nazis in Lateinamerika sichere Fluchtländer gefunden und dort gut gelebt, weil sie Geld und Gold mitgenommen haben. ODESSA (Organisation ehemaliger SS-Angehöriger) soll die zentrale Fluchtorganisation gewesen sein, die später ein Viertes Reich begründete. Frederick Forsyths Roman Die Akte ODESSA und der Film dazu haben ODESSA weltweit bekannt gemacht.

ODESSA hat es aber nie gegeben. Einige neuere Bücher  haben den ODESSA–Mythos widerlegt oder die Flucht von NS-Tätern nach Lateinamerika in ihren realen, viel kleineren Dimensionen dargestellt. Das aber geht den Produzenten von Öffentlichkeit gegen den Strich. Wissenschaftliche Bücher lesen sie nicht, und am wenigsten, wenn das Gegenteil von dem drinsteht, was sie senden wollen. Wenn sie es geschafft haben, an einen der kritischen Autoren heranzukommen und der ihnen sagt, dass es ODESSA nicht gab, suchen sie nach dem nächsten, der ihnen das gewünschte Interview gibt. Ich wollte einmal einen russischen Fernsehproduzenten davon abbringen, in Deutschland einen Film zu ODESSA zu drehen. Das Team flog dennoch ein und unverrichteter Dinge wieder ab.

Mythen sind nicht einfach Erfindungen. Sie haben einen verschütteten, nicht mehr ausmachbaren Wahrheitskern. Hält man sich an die Dokumente[1]des US-amerikanischen militärischen Geheimdienstes CIC (Central Intelligence Corps), der ab 1945 in der amerikanischen Besatzungszone operierte, dann  war ODESSA keine fest gefügte Organisation, sondern ein Sammelbegriff für regionale Gruppierungen und Anlaufstellen fliehender SS-Leute[2]. ODESSA hatte einen Zweig in Deutschland, der die SS-Leute mit falschen Papieren versorgte. Die Zentrale war offenbar die Volkshochschule in Coburg[3]. Der CIC schätzte den Wahrheitsgehalt der Informationen über die Coburger Kleingruppe offenbar gering ein. Ihr Chef war ein behördlich bekannter Hochstapler.

Als Kopf der Organisation galt Otto Skorzeny, – zu Recht oder Unrecht, ist schwer festzustellen. Skorzeny war ein Offizier der Waffen-SS, der durch gewagte Kommandounternehmen wie die Befreiung Mussolinis aus italienischer Haft bekannt geworden war. Skorzeny organisierte vom Kriegsgefangenenlager Dachau aus untergetauchte Nationalsozialisten und wurde nach seiner Flucht aus der Gefangenschaft einer der Köpfe des “Neo-Nationalsozialismus” (ein Ausdruck, den er selbst seit Anfang der fünfziger Jahre benutzte).

Gegen das Bild einer gut abgeschirmten Geheimorganisation sprechen zahlreiche Dokumente des CIC. Beim Roten Kreuz in Augsburg bekamen in der Niemandszeit zwischen 1945 und 1947 entlassene deutsche Kriegsgefangene zusätzlich Brot und Kaffee, wenn sie die Parole “ODESSA” sagten. Polnisches Wachpersonal der US-Kriegsgefangenenlager machte das ODESSA-Spiel mit, um “den Russen zu schaden”[4]. Ein ziviler Agent des CIC erfuhr durch einen alkoholisierten Zufallsbekannten von ODESSA[5]. Eine wohlorganisierte Untergrundorganisation würde sich solche Blößen nicht geben. ODESSA war ein Schlagwort, allenfalls ein loses und kurzlebiges Netzwerk.

Ein vom US-Außenministerium freigegebenes Dokument schildert, wie Mitglieder von ODESSA gefälschte Dollar-Noten, die von der SS im Rahmen der “Operation Bernhard” hergestellt worden waren, um feindliche Währung in Turbulenzen zu bringen und Fluchtgelder für die Hitleranhänger bereitzuhalten, in Peru in Umlauf brachten. Das Hauptquartier von ODESSA sei in Kairo, der “Kopf” der Organisation in Südamerika sei Friedrich Schwend, und in Spanien sei es Otto Skorzeny. Schwend und der in Ägypten lebende Naziflüchtling Johannes von Leers (nach seiner Konversion zum Islam: Omar Armin von Leers) seien im Dezember 1964 in der Botschaft der Vereinigten Arabischen Republik in Lima/Peru zusammengekommen. Leers habe von Schwend für 100.000 echte Dollars eine um ein Vielfaches größere Summe gefälschter Dollars kaufen wollen, heißt es in dem Dokument der US-Botschaft in Lima. Skorzeny und Leers lebten nicht im Untergrund. Sie haben Bücher geschrieben und ihre Identität nicht versteckt. Schwend hat zwar falsche Namen benutzt (z.B. „Wendig“), aber unter seinem richtigen, mehrfach öffentlich erwähnten Namen in Lima gelebt. Das erwähnte Dokument deutet darauf hin, dass ODESSA ein zwar inoffizieller, aber nicht konsequent im Untergrund arbeitender Zusammenschluss geflohener Nazitäter war. Es mag auch sein, dass die Quelle des CIC zu dieser Information den Sachverhalt mit „ODESSA“ etikettiert hat, ohne Näheres zu wissen. Eine ernstzunehmende politische Dimension  – etwa die Errichtung eines „vierten Reiches“ –  kommt in keinem der hier erwähnten CIC-Dokumente vor. Weitere authentische Primärquellen zum Thema ODESSA sind mir nicht bekannt.

Das Schwend-Archiv

Das Schwend-Archiv ist, soweit mir bekannt, die umfangreichste öffentlich zugängliche Dokumentensammlung eines geflohenen Nationalsozialisten in Lateinamerika. Es enthält mehrere Tausend Dokumente der Jahre 1945 – 1971. Das Archiv wurde 1972 in zwei Kisten verpackt in einem Versteck in Schwends Haus in Lima bei einer Durchsuchung durch die peruanische Polizei gefunden. Das Original befindet sich im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung[6]. Schwend wurde in Peru durch Betrug und Devisenschmuggel reich. Er war einer der wichtigen Männer des nationalsozialistischen Netzwerks in Lateinamerika, das aus einzelnen oder in kleinen Gruppen organisierten Nationalsozialisten bestand und keine festen politischen und organisatorischen Konturen auswies. Einer von Schwends engsten Geschäftspartnern war der unter falschem Namen in Bolivien lebende Klaus Barbie.

Nach der Auslieferung Barbies an Frankreich haben Journalisten einen vergleichsweise kleinen Teil des Schwend-Archiv benutzt. Die einzige seriöse Publikation, die mit dem Archiv arbeitete, ist Magnus Linklater u.a.: Klaus Barbie – The Fourth Reich and the Neofascist Connection. Das Archiv enthält neben Schwends Privat- und Geschäftskorrespondenzen eine Vielzahl von Namen, Dokumente zur konterrevolutionären Politikberatung, Unterlagen zum Waffenhandel und politische Einschätzungen nach Lateinamerika geflohener Nationalsozialisten.

Die wichtigste Akte hat die Nummer 18. In ihr sind brisante Teile aus anderen Akten zusammengezogen. Akte 18 enthält viele Geheimdienstdaten und ein „Protokoll“ eines ODESSA-Treffens in den sechziger Jahre im spanischen Marbella. Das „Protokoll“ ist angeblich eine spanische Übersetzung. Ein Original gibt es in dem Archiv nicht. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Produkt aus Schwends notorischer Fälscherwerkstatt. Offenbar wollte Schwend das Thema, wie viele andere, an Journalisten verkaufen. Viele darin enthaltene Schilderungen sind unrealistisch und sensationalistisch. Meine der Akte 18 im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung beigefügte und mündlich wiederholte Warnung, das Dokument sei wohl nicht echt, hinderte Guido Knopp nicht daran, es in Film und Buch als Beweisstück zu präsentieren. Über all der Aufregung geriet in Vergessenheit, dass das Schwend-Archiv eine Fundgrube zum realen Leben geflohener Nazis in Lateinamerika ist.

Was wirklich geschah

Holger M. Meding hat wohl als Erster diese Flucht so dargestellt, wie sie tatsächlich verlief (u.a. Holger M. Meding: Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945-1955. Köln 1992). Matteo Sanfilippo beschreibt in Ratlines and Unholy Trinities: The Vatican Files.net (Quelle: http://dspace.unitus.it/bitstream/2067/24/1/sanfilippo_ratlines.htm) die Mythenbildung um ODESSA und stellt fest, “ODESSA muss existieren, denn wir brauchen es um des Geheimnisses willen”. Dass tausendfache Mörder sich wie Taschendiebe aus dem Staub gemacht haben könnten, ist schwieriger zu vermitteln als die Vorstellung irgendwelcher geheimen Verschwörungszentralen. Sanfilippo, Professor an der Universität Viterbo (Italien) und Rechercheur für die von der argentinischen Regierung zur Erforschung der eingewanderten Nazis eingesetzte Untersuchungskommission CEANA, kommt zu dem gut belegten Ergebnis, dass viele Nazis aus barer Notwendigkeit und ohne besonderen Schutz flohen. Die gängige Zahl von 30.000 in Argentinien untergetauchten Nazis ist durch nichts belegt.

Der Historiker Heinz Schneppen hat die Entstehung des ODESSA–Mythos in seinem Buch Odessa und das Vierte Reich – Mythen der Zeitgeschichte rekonstruiert und anhand zahlreicher Details und Biografien nachgewiesen, dass die Fluchtwege, die es gab, improvisiert und uneinheitlich waren und, was das Auffangland Argentinien betrifft, das finanzielle Interesse und der Bedarf an Technikern die politischen Interessen überwogen.

Schneppen untersucht die beiden Hauptquellen des ODESSA-Mythos: Simon Wiesenthal und die Propaganda der DDR, die sich hier in gegenseitiger Abneigung verbanden. Wiesenthal beruft sich auf eine von ihm nie konkretisierte Quelle „Hans“, deren Information er von Buch zu Buch ausbaut und variiert. Er verlegt mehrfach den Ort, an dem er mit „Hans“ gesprochen hat. Sein Verhältnis zur Öffentlichkeit war taktisch, und ernsthafte Rechercheure wussten immer, dass seine Informationen unzuverlässig waren. Die DDR baute ODESSA auf, um eine Kontinuität zwischen dem Hitlerstaat und der BRD zu belegen. In Westdeutschland, so diese Version, war ODESSA entstanden, im Westen wirkte die Organisation fort, und der NS-Schatz war (in der heutigen Variante Gaby Webers, s.u.) der Grundstock fürs deutsche Wirtschaftswunder.

Zu diesem Konstrukt gehört eine Konferenz, auf der 1944 in Straßburg Spitzen des NS-Staates und der deutschen Wirtschaft Flucht und Nachkriegsordnung beschlossen haben sollen. Die Grundlage dieses Mythologiestrangs ist ein wenig präziser Geheimdienstbericht eines ungenannten Informanten gegenüber dem US-Geheimdienst CIC, der allenfalls Rückschlüsse auf ein kleines lokales Treffen zulässt, das allerdings auch nicht nachweisbar ist. Der CIC hat trotz vieler gezielter Verhöre keine weiteren Anhaltspunkte gefunden. Gaby Weber hat den Spitzelbericht in Daimler-Benz und die Argentinien-Connection (Hamburg 2006) erstmals veröffentlicht und ihn flugs zum Konferenzprotokoll erhoben, an das sie wagemutige Spekulationen knüpft. Schneppen zerpflückt auch diesen Strang.

Uki Goñi  hat in seinem Buch ODESSA: die wahre Geschichte: Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher (Berlin 2006) die Flucht von NS-Personal nach Argentinien sehr nahe an die reale Dimension herangerückt, wenn er auch die Vorstellung einer Schrumpf-ODESSA nicht aufgibt (belegen kann er sie nicht). Goñi  hat 300 Namen von geflohenen Nazis herausgefunden, wobei er zwischen Straftätern und Kollaborateuren nicht unterscheidet. Über den Titel seines Buches ist er nicht glücklich, aber das wollte der Verlag so. Schneppen kommt auf maximal 30 NS-Verbrecher und 150 Kollaborateure.

Argentinien, ein damals wohlhabendes Land, unterhielt während des Zweiten Weltkrieges gute Kontakte zu Hitlerdeutschland und ließ so wenig jüdische Flüchtlinge wie möglich einreisen. Gegen Kriegsende organisierten die katholische Kirche und argentinische Diplomaten die Flucht von Kriegsverbrechern nach Argentinien. Die argentinische Präsidentengattin Eva Perón reiste 1947 nach Madrid, Rom und in die Schweiz und verschaffte, so Goñi, der NS-Fluchthilfeorganisation politische Rückendeckung. Goñi beschreibt in einzelnen Kapiteln die unterschiedlichen Fluchtwege aus Europa nach Argentinien. Der wichtigste lief über Italien, wo die katholische Kirche aktive Fluchthilfe anbot. Eine “Nordroute” brachte über Norwegen und Dänemark vor allem Flugzeug- und Raketenbauer nach Argentinien. In der Schweiz gab es ein inoffizielles Verbindungsbüro, das von versteckten Nazis und beauftragten Argentiniern geführt und von Antisemiten in den Schweizer Behörden geduldet wurde. Die Schweiz hatte Interesse, die dort untergetauchten Nazis und kroatischen Ustascha-Leute und gleichzeitig jüdische Flüchtlinge loszuwerden. Sie handelten mit den Argentiniern aus, dass auf den Schiffen, mit denen die Nazis flohen, auch Naziopfer Platz fanden. Am Ende kam wegen der restriktiven argentinischen Einwanderungspolitik auf drei Nazis ein Nazi-Opfer,

Die Ustascha-Leute flohen schon ab November 1943 Richtung Argentinien. Ihr wichtigster Stützpunkt war das von Bischof Hudal verwaltete Kloster San Girolamo bei Rom, das sie in ein Räubernest verwandelten und in dem sie einen eigenen Geheim- und Sicherheitsdienst unterhielten. Anfangs versuchte der US-Geheimdienst CIC, die “Rattenlinie” zu blockieren und schaffte es sogar, einen V-Mann in das Kloster einzuschleusen. Mit dem einsetzenden kalten Krieg wurden immer weniger Kriegsverbrecher an kommunistische Staaten ausgeliefert, und die USA unternahmen nichts mehr gegen die “Rattenlinie”, wenn sie sie nicht sogar selbst nutzten.

Goñis Buch ist deskriptiv, deutet aber an, wie ein Teil der Geflohenen sich in die argentinische Gesellschaft einfügte. Das Selbstverständnis der geflohenen Nazi-Täter als rassisch-politische Elite kam den Erwartungen der lateinamerikanischen Länder, in die sie flohen, entgegen. Das argentinische Bürgertum definierte sich über einen aus Europa mitgebrachten Rassismus. Von der Fiktion eines leeren Landes ausgehend, unterschied es zwischen Einwanderern aus Nord- und Westeuropa, die nach der Unabhängigkeit von Spanien die argentinische weißen Elite bildeten, und den proletarischen Einwanderern aus Südeuropa (Italiener und Spanier) und Osteuropa (mit dem Prototyp der Juden). Um die Einwanderungsströme in diesem rassistischen Sinn zu lenken, besetzte die Regierung Perón die wichtigsten Posten der Einwanderungsbehörde mit überzeugten argentinischen Antisemiten und gerade angekommenen Kriegsverbrechern. Ihnen genügte, wie Goñi schreibt, die Tatsache, dass jemand an Nazi-Verbrechen beteiligt war, als Beweis ihrer rassischen Überlegenheit. Der Kampf, welche Juden nach 1945 entgegen einem geheimen Dekret aus Buenos Aires einwandern durften, wurde erbittert und mit harten persönlichen Konsequenzen für die Beteiligten geführt. Der rassistische Kern dieser Konflikte wird an Episoden wie der Einwanderungserlaubnis für ein jüdisches Ehepaar – mit der Begründung, es sei ja zu alt um noch Nachwuchs zu zeugen.

In Argentinien angekommen, schmiedeten die Flüchtlingsgruppen mit den örtlichen Eliten informelle oder auch formalisierte geschäftliche und politische Allianzen. Gerade angekommene NS-Verbrecher, die noch kein Spanisch konnten, saßen am Tisch von Peróns Geheimkabinett. Der von Hitler hoch dekorierte Kampfpilot Hans-Ulrich Rudel half zusammen mit geflohenen oder angeworbenen deutschen Technikern beim Aufbau der argentinischen Luftwaffe. Zu den kreolisch-europäischen Allianzen gehörten Gruppen wie ein “Zentrum für Nationalistische Kräfte”, das Goñi als “internationale Initiative” bezeichnet, “zu der italienische Faschisten, belgische Rexisten (eine katholisch-faschistische Gruppe) und kroatische Ustascha-Leute gehörten”. Nach der Niederlage des Nationalismus 1945 waren solche Internationalen der Nationalisten häufig. Gelegentlich wurde diese Allianzpolitik als “Dritter Weg” zwischen Kommunismus und Kapitalismus betrachtet, ein Begriff, der zur nationalsozialistisch-faschistischen Ideologie einer nichtkapitalistischen Ökonomie der “Volksgemeinschaft” passte und zugleich für ein eigenes Entwicklungsmodell stand, wie es Caudillos vom Schlage Peróns vertraten.

Linklater u.a. analysieren die bolivianische Variante solcher Allianzen in Klaus Barbie – The Fourth Reich and the Neofascist Connection. Barbie hat, wie sein Geschäftsfreund Schwend in Peru, mit dem Geheimdienst seines Fluchtlandes gearbeitet und sein im Kampf gegen die résistance gewonnene Repressionserfahrung einer bolivianischen Militärdiktatur zur Verfügung gestellt. In Chile gehörte Walther Rauff während der Diktatur Pinochets zu den Beratern des Geheimdienstes DINA.

Die Phase der recht offen gezeigten Allianzen zwischen NS-Tätern, katholischer Kirche und örtlichen politischen Eliten endete mit einem Schlag, als 1960 der israelische Geheimdienst Adolf Eichmann, den Organisator der “Endlösung”, aus Argentinien nach Israel entführte. Nachdem Eichmann nicht nach Hause gekommen war, alarmierte sein Sohn Horst Gesinnungsgenossen, und junge Peronisten durchkämmten Buenos Aires mit Motorrädern, um Hinweise auf Eichmann zu finden. Das Bündnis aus Nazi-Verbechern und argentinischen Antisemiten war so gut organisiert, dass es schnell und flexibel reagieren konnte. Die jugendlichen Peronisten planten, die israelische Botschaft in die Luft zu jagen und den israelischen Botschafter zu entführen und zu foltern, um das Versteck der Entführer zu finden. Eichmanns Familie befürchtete, Horst könne in ein arabisches Land gehen und “jedwede Mission gegen Israel ausführen”. Zwei junge argentinische Jüdinnen gerieten in den Verdacht, etwas mit der Entführung zu tun zu haben. Eine wurde ermordet, die andere entführt und gefoltert und ihr wurde in Hakenkreuz in die Brust gebrannt.

Bei seiner Recherche stellte Goñi fest, dass die Behörde noch 1996, also unter ziviler Regierung, die wichtigsten Akten zur Naziflucht verbrannt hatte, um lästigen Nachforschungen zu entgehen. Als dann die staatliche Kommission CEANA gegründet wurde, konnte sie auf diesen Aktenbestand nicht mehr zurückgreifen. Die Kommission konnte 180 geflohenen Nazis identifizieren; Goñi fand 300. Der Zahlenunterschied mag sich durch die unterschiedlichen Kategorisierungen von „Nazi“ erklären.

Nach diesen entmythologisierenden Studien war es an der Zeit, durch Präzisierung, Abgleiche und detaillierte Einzelstudien zu vertiefen, was die reale Dimension der Fluchtbewegung war. In dieser Forschungssituation schrieb Gerald Steinacher Nazis auf der Flucht: wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen.

Das NS-Personal floh größtenteils über Südtirol. Es war das einzige deutschsprachige  Gebiet, das schon kurz nach Kriegsende nicht mehr von den Alliierten besetzt war und Zugang zu den italienischen Seehäfen bot. Örtliche Einrichtungen der katholischen Kirche und des Roten Kreuzes stellten wissentlich oder nicht die zur Ausreise nötigen Papiere zur Verfügung. Südtirol war nach dem Ersten Weltkrieg und verstärkt unter Mussolini zwangsitalienisiert worden, was zu einer trotzigen Identifikation der überwiegend ländlichen deutschstämmigen Bevölkerung mit Österreich und Deutschland führte. Die aber wurden zum großdeutschen Reich, wodurch der antiitalienische Affekt fast zwangsläufig einen nationalsozialistischen Einschlag bekam, der aber dadurch wieder irritiert wurde, dass Hitler Südtirol nicht heim ins Reich holte, um seinen Bundesgenossen Mussolini nicht zu verschrecken. Die Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht gab der deutschfreundlichen Fraktion wiederum Auftrieb. Die hinter Hitlers Rücken ausgehandelte Kapitulation von Wehrmacht und SS in Norditalien führte dazu, dass die US-Streitkräfte kein strenges Besatzungsregime errichteten. US-Soldaten und SS-Männer gingen in Bozen in ihren jeweiligen Uniformen gemeinsam auf Streife. Die Dorfbürgermeister blieben erst einmal im Amt und halfen in einer Mischung aus landsmannschaftlicher und politischer Solidarität den Flüchtlingen mit falschen Geburtsurkunden aus. Dieses Milieu aufgezeigt und mit Fotos dokumentiert zu haben gehört zu Steinachers großen Verdiensten. Als Archivar am südtiroler Landesarchiv in Bozen saß er an der richtigen Stelle, um eine Forschungslücke auszufüllen. Steinacher hat Pfarrbücher eingesehen und Interviews mit Zeitzeugen oder deren Angehörigen gemacht. Dieser Teil von Nazis auf der Flucht klärt über eine wesentliche Etappe der Fluchtroute auf.

Verdienstvoll ist auch Steinachers Einsicht in Archive wie das des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK). Dessen Praxis, die für die Ausreise aus Italien benötigten Papiere zu beschaffen, mag mit heimlichen Sympathien einiger führender Mitarbeiter des IKRK zu tun haben, insgesamt war sie aber die Folge einer Überforderung der wenigen IKRK-Mitarbeiter in Italien nach 1945, das noch keine funktionierende Verwaltung aufgebaut hatte und aus dem Abertausende staatenloser Ausländer auswandern wollten. Die Italiener waren froh um jeden, der ging. Auch zur Fluchthilfe der katholischen Kirche steuert Steinacher Informatives bei wie etwa die problematische Praxis der Wiedertaufe, um „gottgläubige“ Flüchtlinge in den Schoß der Kirche zurückzubringen („Seelenernte“) und dann in Klöstern zu verstecken.

Aber war es denn immer Fluchthilfe, was da geleistet wurde? Es gab Nationalsozialisten, die die Fluchtroute benutzten, ohne von den Alliierten gesucht zu werden. Hitlers Lieblingspilot Hans-Ulrich Rudel ist wohl abgehauen, weil er in Deutschland für sich keine Zukunft sah und hat für seine neonazistischen Aktivitäten die BRD besucht. Walther Rauff war im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Zeuge, aber nicht Angeklagter, und reiste aus Chile, wo er unter seinem richtigen Namen offen lebte, dreimal nach Deutschland, wo ein gegen ihn bestehender Haftbefehl, von dem er nichts wusste, nicht ausgeführt wurde. Andere gingen freiwillig zurück und stellten sich der Justiz. Oft mischten sich wirtschaftliche und politische Motive bei der Auswanderung. Diese Problematik diskutiert Steinacher nicht; bei ihm ist alles einfach Flucht.

Und wer waren die Flüchtlinge? Steinachers  Terminologie ist unklar. Er nennt austauschbar „Kriegsverbrecher und SS-Angehörige“ (ohne Unterscheidung zwischen allgemeiner SS und Waffen-SS), „Nazi-Prominenz“[7], „Kriegsverbrecher und Faschisten“, „SS-Offiziere“, „Nationalsozialisten“, „Kollaborateure“ und dann schlicht „Nazis“ (im Titel), wobei militärische Ränge gelegentlich falsch angegeben sind. Steinacher macht keinen Versuch diese Begriffe zu klären und die Gruppen jeweils zu quantifizieren. „Kollaborateur“ wurde im Stalinismus sehr pauschal gebraucht und bedeutete Lager oder Tod; im Westen war es kein Grund zur Flucht nach Übersee, eher zum vorübergehenden Abtauchen. Mit dem Wort „Kriegsverbrecher“ geht Steinacher geradezu fahrlässig um. Es geht auf den „Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher“ in Nürnberg zurück, bezeichnete ursprünglich eine genau definierte Personen- und eine spezifische Deliktgruppe und wurde später inflationär benutzt.

Und wie viel Flüchtlinge waren es? Goñi hat, wie erwähnt, 300 Fälle gefunden, Schneppen nennt „maximal 30 NS-Verbrecher“ und etwa 150 Kollaborateure, Meding spricht von 300-800 höheren NS-Funktionären, darunter 50 schwerbelastete Kriegsverbrecher und Massenmörder. Diese Zahlen überlappen sich, und nun wäre es an der Zeit, sie systematisch zu vergleichen und nach wohldefinierten Tätergruppen zu ordnen. Die Größenordnung der Dunkelziffer wäre einzugrenzen. Steinacher lässt sich auf diese Diskussion gar nicht erst ein. Er sagt, wie es gerade kommt, „Viele“, „nicht wenige“, „hunderte“, „Tausende“ oder „Strom der NS-Flüchtlinge“.

In Nazis auf der Flucht wiedergegebene Kurzbiografien von Leuten, deren Fluchtgeschichte bereits gut dokumentiert ist, enthalten Fehler, die aus der Sekundärliteratur übernommen wurden (z.B. Rauff, der in Chile „äußerst wohlhabend“ und mal als der „Erfinder“, mal der „Entwickler“ der Gaswagen genannt wird; tatsächlich hat er diese Aktion geleitet). Zwei in dem Buch häufig erwähnte NS-Flüchtlinge sind Klaus Barbie, der erst nach Peru und dann nach Bolivien floh, und Friedrich Schwend, der sich über den Panamakanal nach Peru absetzte. Das Standardwerk hierzu ist Klaus Barbie and the Fourth Reich, eine solide und umfassende Arbeit des angelsächsischen Recherchejournalismus, die bei Steinacher nicht auftaucht. Steinacher nennt das Schwend-Archiv als Quelle und zitiert daraus, behauptet aber, Schwend sei nach Argentinien ausgewandert. Dass Schwend in Peru war, kann niemandem entgehen, der sein Archiv auch nur flüchtig eingesehen hat. Jedes Blatt des Archivs trägt einen Stempel der peruanischen Justiz.

Steinacher sagt, dass Schwend die Rattenlinie mit aufgebaut und mitfinanziert und dabei mit Walther Rauff zusammengearbeitet habe. Schwend ging es aber immer nur um Geld, er hat es rausgeholt, wo er konnte, und sich dann abgesetzt, da er in Italien wegen eines im Streit begangenen Mordes verurteilt worden war. Rauff hat laut Wiesenthal Schwend in Italien wegen dessen in der „Operation Bernhard“ zusammengeraubten Vermögens erpresst. In Lateinamerika sei Schwend eine „zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge“ gewesen, so Steinacher. Loyal war Schwend aber nur gegenüber seinem Geschäftspartner Barbie, alle anderen hat er übers Ohr gehauen. Schwend war Anlaufstelle für Journalisten, denen er meist erfundene Geschichten andrehte, und gesuchte NS-Täter werden sich gehütet haben, mit ihm irgendwelche Kontakte aufzunehmen.

Steinacher folgt der Grundannahme, dass die Hitleranhänger nach Kriegsende kameradschaftlich zusammengehalten haben. Darin reproduziert er das Selbstverständnis der SS, nach außen hart, aber im Kern „anständig“ (Himmler) gewesen zu sein. Diese unterstellte Kameradschaftlichkeit führt zu Behauptungen wie der, dass Schwend und Barbie „wiederholt Kontakte zu Mengele“ hatten, weil sie Mengele-Landmaschinen importierten. Die Familie Mengele hat ihrem untergetauchten Sohn diskret Geld zukommen lassen, aber wohl kaum Vertreterprovisionen. Sollte Steinachers Behauptung zutreffen, müsste er eine Quelle nennen.

Es gab auf der Fluchtroute und in den Zielländern alte Seilschaften und ein paar Netzwerke, die aus den Großorganisationen Hitlerdeutschlands (Wehrmacht, SS, Partei) hervorgegangen waren. Aber wenn es darauf ankam, versuchte jeder, auf eigene Faust zu überleben oder zu fliehen. Es ist schwer zu verkraften, dass die großen Verbrechen Hitlerdeutschlands sich mit dem Stichtag der Kapitulation in unzählige kleine Gaunerstücke aufgelöst hat; man kann sich die Nachgeschichte des Bösen kaum trivial genug vorstellen. Dieses Missverhältnis hat wohl zu all den Mythologisierungen über geflohene Nazis und deren Schätze geführt; Steinacher verfolgt den Strang der Entmythologisierer, erliegt aber gelegentlich der Versuchung, die Dinge wieder nach oben zu korrigieren.

CAPRI war eine Art Beschäftigungsgesellschaft für deutschsprachige Einwanderer in Argentinien, in der Leute wie Eichmann unterkamen, bevor sie anderswo Arbeit fanden. Nach Goñi war CAPRI nominell den staatlichen Wasser- und Energiebetrieben angegliedert. Steinacher macht daraus eine „Firmengruppe CAPRI unter dem Dach“ dieser Betriebe. Die 300 Leute, die in CAPRI unterkamen  – längst nicht alle Nazis –  machen gewiss keine Firmengruppe. Ein CIC-Dokument, das beide nicht kennen, stellt CAPRI als monströse Hintergrundorganisation zu ODESSA dar. Das belegt, wie wenig man solche Dokumente zum Nennwert nehmen kann. Der CIC hat dieser Information wohl selbst keine Beachtung geschenkt. (Zu Steinacher ausführlich meine Rezension in Einsicht 01 : Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 2009)

Man kann die Demontage der Nachkriegsmythen zum Nationalsozialismus fortführen. Die Alpenfestung und die Wunderwaffe blieben Planungen und Propaganda, der Werwolf kam nie über kleinste Anfänge hinaus, und was an Gold und anderen Werten nach 1945 ins Ausland gelangte, war privates Diebesgut (auch hierzu enthält das Schwend-Archiv viel).

Eine Einzelstudie zum Thema Flucht nach Lateinamerika liefert Heinz Schneppen in Ghettokommandant in Riga: Eduard Roschmann: Fakten und Fiktionen. Roschmann, der Anti-Held in Frederick Forsyths Die Akte ODESSA wurde nach dem Krieg festgenommen, konnte aber nach Argentinien fliehen.

Bleibt die Frage, wie ein historisches Gebilde von den Ausmaßen des Hitlerstaates nach drei Jahren Niemandszeit und einer eher oberflächlichen Entnazifizierung in den beiden deutschen Staaten aufgehen konnte. Der ODESSA-Mythos ist ein Teil der Antwort: „ODESSA“ gehört zu den negativen Gründungsmythen von Nachkriegsdeutschland. Es enthält die erleichternde Deutung, dass das Böse nun woanders weiterwirkte. Der unliebsame Mieter war endlich weg, das Haus wieder friedlich. Die Zählebigkeit des ODESSA-Mythos erklärt sich wohl auch aus diesem Bedürfnis nach Entlastung.

Uki Goñi: The Real ODESSA. How Perón Brought The Nazi War Criminals to Argentina. London: Granta, 2002,. span. Ausgabe: La ODESSA real, dt.: ODESSA: die wahre Geschichte: Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin (Verlag Assoziation) 2006.

Magnus Linklater, Isabel Hilton, Neal Ascherson: Klaus Barbie – The Fourth Reich and the Neofascist Connection, London u.a. 1984

Holger M. Meding: Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945-1955, Köln 1992

Heinz Schneppen: Ghettokommandant in Riga: Eduard Roschmann: Fakten und Fiktionen. Berlin, Metropol Verlag, 2009, 343 S.

Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich: Mythen der Zeitgeschichte. Berlin, Metropol Verlag 2007, 279 S.

Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht: wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck, Studienverlag, 2008, 380 S.

Gaby Weber: Daimler-Benz und die Argentinien-Connection, Hamburg 2006


[1].Unterlagen des CIC nach der Freedom of Information Act zu ODESSA und zu Skorzeny (in letzterer verstreut über die gesamte Akte von mehreren hundert Blatt). Die CIC-Akten liegen beim Department of the Army, US-Army Central Security Facility, Maryland, USA. Die hier benutzten Dokumente können im Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main eingesehen werden.

[2].In Hamburg soll es eine parallele “Organisation Brandenburg” gegeben haben (Blatt 13 der ODESSA-Akte des CIC). Ein Informant des CIC bezweifelt, daß es ODESSA überhaupt gab (Blatt 16).

[3].Gelegentlich wird von einer “Organisation Coburg” gesprochen (Blatt 23 der ODESSA-Akte des CIC).

[4].Blatt 65 der ODESSA-Akte des CIC.

[5].Blatt 76 der ODESSA-Akte des CIC

[6].Eine fast vollständige Kopie hat das Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.

[7] Viele, wie Barbie, waren damals völlig unbekannt. Der prominenteste NS-Funktionär, der es fast bis Südtirol schaffte, war der Gauleuter von Hessen-Nassau, Jakob Sprenger. Er blieb dort stecken und beging Selbstmord.

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